Weg-Wort vom 11. Mai 2009
Von Freude und Trauer
Die Trauer über den Verlust seiner Frau bestimmt sein Leben seit Jahren.
Kaum etwas kann ihn seither wirklich erfreuen. Über allem, was er in jeder
Stunde, an jedem Tag erlebt, liegt der Schatten seiner Trauer. Sie ist ihm
zur ständigen Begleiterin seines Lebens geworden. Ohne ihre
Zwillingsschwester aber, die Freude, kann auch die Trauer nicht wirklich
leben.
So lässt der Dichter und Philosoph Khalil Gibran seinen Propheten von der
Freude und der Trauer sagen:
Eure Freude ist eure Trauer ohne Maske. Und der Brunnen, aus dem euer
Lachen kommt, war oft mit euren Tränen gefüllt wie kann es anders sein? Je
tiefer die Trauer sich in euer Leben eingräbt, desto mehr Freude könnt ihr
aufnehmen. Ist nicht der Becher, der euren Wein enthält, derselbe Becher,
der in dem Ofen des Töpfers gebrannt wurde? Ist nicht die Laute, die euren
Geist beruhigt, aus dem Holz gemacht, das mit Messern ausgehöhlt wurde?
Wenn ihr voller Freude seid, seht tief in euer Herz und ihr werdet
entdecken, dass nur, was euch vorher trauern liess, euch jetzt Freude gibt.
Wenn ihr betrübt seid, seht wieder in euer Herz und ihr werdet entdecken,
dass ihr in Wirklichkeit über das weint, was euch früher Freude machte.
Manche von euch sagen: Freude ist grösser als Trauer, und andere sagen:
Nein, Trauer ist grösser als Freude.
Aber ich sage euch, dass die beiden nicht zu trennen sind. Sie treten
zusammen auf und wenn eine an eurem Tisch sitzt, so liegt die andere
schlafend in eurem Bett.
Wahrlich, ihr schwebt zwischen eurem Leid und eurer Freude wie die zwei
Schalen einer Waage. Nur wenn ihr leer seid, steht ihr still und seid
ausgeglichen. Wenn der Schatzhüter euch emporhebt, um sein Gold und Silber
zu wiegen, dann wird eure Freude und eure Trauer zwangsläufig steigen oder
fallen.
Wir wünschen Ihnen einen guten und gesegneten Tag!
Die Seelsorger und Seelsorgerinnen der Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Beat Schlauri, Susanne Wey
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