Weg-Wort vom 23. November 2009
Sehnsucht nach mehr
Das Konzert faszinierte die Frau. Es war für sie ein Genuss, sich von den
vielfältigen Klängen von Sängern und Orchester mitnehmen zu lassen. Sie war
von der Musik in ihrer Seele berührt und am liebsten hätte sie am Ende des
Konzerts noch lange einfach weiter zugehört.
Der knapp vierzigjährige Mann, geschieden, wusste sich nicht mehr zu helfen.
Sein Leben gehörte der Firma. Die täglichen Überstunden erlaubten ihm gerade
noch das Zappen durch die spätabendlichen Fernsehprogramme. Seit Jahren
lebte er nur noch auf das Wochenende hin. Da ging dann die Post ab, in den
Bars und Discos, bis in die frühen Morgenstunden. Eine ihm unerklärliche,
unbefriedigte Sehnsucht liess ihn in diese Scheinwelt flüchten, wie er es
seit kurzem selber spürte.
Der wunderschöne Herbsttag liess mich träumen. Die Farbenpracht der Bäume
hob sich im tiefen Blau des Himmels erst recht prächtig hervor. Unten
glitzerte der See und im fernen Horizont leuchteten die frisch verschneiten
Berge im warmen Licht der Sonne. Eine friedliche Ruhe lag über der
strahlenden Landschaft. Ich war so überwältigt von der Kraft und Schönheit
dieser Welt, dass ich innerlich verstummte und einfach nur noch dasass in
tiefem Frieden und von grosser Dankbarkeit erfüllt.
Wir erleben immer wieder Situationen in unserem Leben, wo wir die Zeit
anhalten und einfach nur verweilen und geniessen möchten. Wir können sie
leider nicht festhalten und wir finden uns oft schneller, als uns lieb
ist, mitten in unserem Alltag wieder. Mit jeder solchen Erfahrung aber
wächst die Sehnsucht nach mehr.
Allein - solche Momente können wir nicht einfach herbeirufen oder gar
machen. Sie sind ein geheimnisvolles Geschenk des Lebens. Wir können uns nur
innere Freiräume erschaffen, in denen wir für sie offen und bereit sind. Wir
können uns in unserem Alltag öffnen für die tiefere Dimension von allem, was
wir tun und erleben:
sei es beim täglichen Zug fahren, beim Einkaufen, bei der Arbeit, beim Lesen
eines Buches, in der Natur wie im Kino, bei Spiel und Tanz, in der Begegnung
mit uns lieben wie auch mit uns unbekannten Menschen, bei der Reise zu uns
selbst.
Diese tiefe Sehnsucht nach mehr ist die spirituelle Dimension, die uns offen
hält für das allem zugrundeliegende Geheimnis des Lebens, für das, was uns
alle zutiefst ausmacht, für das Eigentliche und Wesentliche unseres Daseins,
für das Göttliche in allem.
Wir wünschen Ihnen einen guten und gesegneten Tag!
Die Seelsorger und Seelsorgerinnen der Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Iris Daus, Susanne Wey
© Bahnhofkirche
Hauptbahnhof Zürich
www.bahnhofkirche.ch
info(a)bahnhofkirche.ch