Weg-Wort vom 9. März 2010
Aus einem Gespräch über den Sinn des Lebens
Die Kirche hat mir früher schon Halt und Geborgenheit gegeben. Das muss ich
zugeben. Da gab es die Frage nach dem Sinn meines Lebens gar nicht. Aber all
die Skandale um die pädophilen Priester, die Einsetzung konservativster
Bischöfe und die Verlautbarungen aus Rom da habe ich mich von meiner
Kirche, wie ich sie verstand, im Stich gelassen und verraten gefühlt.
Da habe ich schmerzhaft begriffen, dass niemand mir den Sinn meines Lebens
vorgeben kann, dass ich ihn in mir selber suchen muss. Seither bin ich auf
dem Weg, mich selber zu verwirklichen, meine Fähigkeiten auszuloten und das
auszuprobieren, was ich vor mir selber verantworten kann.
Was Sie über die Selbstverwirklichung sagen, da stimme ich mit Ihnen
überein. Für mich gehört aber zur Selbstfindung dazu, dass ich mich nicht
auf mich selbst fixiere, sondern über mich hinaus gehe, mich auf andere
Menschen einlasse und in Gemeinschaft mit ihnen unseren Teil der
Verantwortung übernehme für unsere Umwelt, ja für die ganze Welt. Den
Lebenssinn finde ich in meinem Selbst nur, wenn es offen ist für das Du und
das Wir und alle Menschen, mit denen ich lebe.
Ich kann dem allem aus voller Überzeugung zustimmen. Für mich als
glaubenden Menschen kommt allerdings hinzu, dass ich mein Leben stets auch
auf die Tiefendimension Gott hin öffne. Bei allem, was ich tue und erlebe,
kann ich mich auf etwas verlassen, das nicht ich selber bin auf einen
alles umfassenden Sinngrund meines Lebens.
Ich bin dadurch befreit, mich selber immer wieder vor mir und anderen
beweisen zu müssen. Ich bin nicht dem unbarmherzigen Gesetz der
bedingungslos geforderten Leistung unterworfen und auch nicht dem Zwang, in
der ständigen Erlebnisbefriedigung den Sinn meiner Existenz finden zu
hoffen.
Denn für Gott bin ich, wie ich nun einmal bin: mehr oder weniger
intelligent, stark, schön, humorvoll, beeinträchtigt und effizient. Für ihn
bin ich stets wertvoll und angenommen auch wenn ich nur mittelmässige
Leistungen zu erbringen vermag. Für ihn bleibe ich ein bejahter Mensch
auch wenn ich keine Bestätigung mehr finde durch bezahlte Arbeit, auch wenn
ich alt und krank geworden bin.
Vor Gott ist unser Leben stets sinnvoll, was auch immer geschieht: bei
Erfolgen wie Misserfolgen, bei Fehl- wie bei Glanzleistungen, im Glück wie
im Unglück, in der Freude und im Schmerz, im blühenden wie im verwelkenden
Leben.
Wir wünschen Ihnen einen guten und gesegneten Tag!
Die Seelsorgenden der Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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