Weg-Wort vom 7. November 2006
Vorrat an Licht und Wärme
Welch prächtiger Herbst! Wie selten habe ich in den letzten Tagen und Wochen
die angenehme Wärme, die farbenprächtigen Bäume und das golden schimmernde
Abendlicht herzhaft genossen. So oft es mir möglich war, suchte ich das
Licht und die Wärme der Sonne, wie um sie mitzunehmen für die wieder
kürzeren Tage und dunkleren Stunden der kommenden Wochen, wenn keine
Sonnenstrahlen mehr durch die grauschwarze Nebeldecke dringen.
Mit den trüben Novembertagen beginnt für viele Menschen eine eher
schwermütige und niederdrückende Zeit, die sie nur wenig Freude und
Leichtigkeit erleben lässt.
Tief beeindruckt hat mich eine Frau, die sich jeweils lange im Voraus auf
diese für sie schwierige und depressive Zeit vorbereitet mit einem Vorrat
an Licht und Wärme, wie sie sagte. Sie zeigte mir eine rotsamtene
Schachtel, in der sie ihre Lichthäppchen, ihre wärmenden Aufsteller jedes
Jahr neu sammelte:
Einige ihrer Lieblingsbilder; Fotos mit freudvollen Erinnerungen; Gedichte
oder Texte, die ihr zu Herzen gingen; Gebete; Zeitungsausschnitte mit
Berichten, die sie erfreuten; Briefe, die zu lesen ihr immer wieder gut
taten; Gegenstände, die sie an kraftvolle, wichtige Ereignisse erinnerten;
Zitate von Dichtern und Denkern, die sie beeindruckten; eigene,
handschriftlich aufgezeichnete Gedanken, die sie bewegten und ihr Mut
machten; eine Aufzählung von dem, was sie an sich mochte und schätzte; für
jede ihrer Stärken eine eigene Karte; Fotos von lieben Menschen, mit denen
sie sich gut verstand, denen sie auch in dunklen Stunden anrufen konnte ...
Sie erklärte mir dann: Ich weiss, ich darf das Depressive in mir, die
Schwere nicht einfach verdrängen oder mit all diesen guten Dingen zudecken.
Ich muss das Dunkel immer wieder zuerst annehmen, ja dazu sagen und es
aushalten.
Dann aber hole ich die Schachtel hervor und schenke mir ein wenig von meinem
Vorrat an Licht und Wärme. Zum Abschied drückte sie mir den folgenden Text
von Dietrich Bonhoeffer in die Hand:
In mir ist es finster, aber bei dir ist das Licht;
ich bin einsam, aber du verlässt mich nicht;
ich bin kleinmütig, aber bei dir ist die Hilfe;
ich bin unruhig, aber bei dir ist der Friede;
in mir ist Bitterkeit, aber bei dir ist die Geduld;
ich verstehe deine Wege nicht,
aber du weißt den Weg für mich.
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