Weg-Wort vom 3. September 2012
Meine Geschwindigkeit ärgert
Man sieht es mir kaum mehr an, dass ich meiner Jugend ein Sprinter war.
Irgendwo steckt es aber noch in mir, dieses auch vom olympischen Feuer
entzündete "Schneller, weiter, höher". Das ist ein Lebensgefühl: Nach einem
guten 100 Meter - Sprint auszulaufen, die Muskeln zu lockern und auf die
Anzeigetafel zu schauen: Wie schnell war ich, wie schnell die andern?
Stolz sein auf die gute Leistung hat einfach dazu gehört.
Und jetzt - die Geschwindigkeit gehört den jüngeren, keine 20 Meter vermag
ich noch zu sprinten, die Knie tun schon vorher weh, keuchend und nach Luft
schnappend muss ich stehen bleiben.
Wie sehr verstehe ich jetzt durchs eigene Erleben den Mann, der mir fast
unter Tränen gesagt hat, dass er kaum mehr aufstehen könne, die Beine
wollten einfach nicht mehr. Damals habe ich das mit meinem Kopf und meinem
Herzen verstanden, heute verstehe ich es auch mit meinen Knochen, Gelenken
und Muskeln.
Die Geschwindigkeit, die damals Freude bereitete, wird zu Last. Die
Übersetzung des olympischen Komparativs ist noch nicht gelungen: Aus
"Schneller, weiter, höher" muss etwas anderes werden, etwas, was das innere
Feuer, gleich dem olympischen, weiterbrennen lässt. Könnte es vielleicht
"Langsamer, ruhiger, bedächtiger" heissen oder "gerechter, hartnäckiger,
bewusster." - Kann ich von diesem Schauen auf körperbetonte Kapazitäten
absehen? Sie waren mir in dieser, olympischen Höchstleistung nie möglich,
aber träumen tat ich davon. Erlaube ich mir ganz im Sinne des "Mehr" jetzt
auf Anderes zu schauen? Verzeihe ich mir das Älterwerden? Erlaube ich mir
einzugestehen, dass Langsamkeit auch ein Mehrwert sein kann? Was im Leben
grundlegend ist, könnte so wichtiger werden. Dazu wünsche ich Ihnen und mir
die nötige Ruhe, die nötige Besinnung und Weitsicht.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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