Weg-Wort vom 23. November 2006
Orte, wo sich der Himmel auftut
Die orthodoxe Kirche ist eine Kirche des Gebets. Im Zentrum des orthodoxen
kirchlichen Lebens steht der feierlich gestaltete Gottesdienst. Die
sogenannte göttliche Liturgie möchte etwas Himmel auf Erden erfahren
lassen. Allein schon ihre Kirchen sind geeignet, in Menschen die
Voraussetzung zu schaffen, dass sie mit dem Heiligen in Berührung kommen.
Eine Begebenheit soll das veranschaulichen: Es war im Frühsommer 1989 in der
Maria-Himmelfahrts-Kirche im Kreml. Also noch vor der Wende im Osten. Zu
jener Zeit war diese Kirche ein vielbesuchtes Museum. Die theologische
Fakultät der Universität Wien war mit 30 Studierenden dort. Die von den
kommunistischen Behörden zugesellte Führerin hiess Natascha. Sie erklärte
der Gruppe eine der schönsten Kirchen der Christenheit, gelegen im Zentrum
der Macht eines Staates, der angetreten war, die Erinnerung an Gott
auszulöschen. Natascha sagte: Das ist eine Kirche. Das ist ein Vorhof zum
Himmel. Und die Leute reden da mit Gott.
Diese Führerin ahnte wahrscheinlich kaum, welch schönes Kirchenbild sie mit
ihrer Aussage machte: Kirche als Ort, wo der Himmel offen ist. Kirche als
Ort, wo ein wortloser Dialog anhebt ins Unsagbare hinein, das Christen Gott
nennen. Den Studierenden war nach einer angemessenen Reaktion zumute. Sie
stimmten, ohne lang zu fragen, das Jubilate der Brüder von Taizé an. Die
murmelnden Massen verstummten.
Kirche als Vorhof des Himmels, als Ort, um mit dem unsagbaren Geheimnis
unseres Lebens in Berührung kommen. Das ist das Kirchenbild einer im
Atheismus trainierten Sowjetfrau. Was für ein Kontrast zu all dem, wenn man
heute bei uns Kirche sagen hört. Verstellen uns die Kirchen nicht oft den
Blick zum Himmel? Es wäre wünschenswert, wenn es uns gelänge, durch all das
Menschliche, allzu Menschliche hindurch die Perspektive, den Ort zu
verändern, von dem aus wir auf die Kirchen schauen. Dann könnten wir sie
vielleicht doch bisweilen auch als Orte erfahren, wo sich für uns der Himmel
auftut, sei es in ihrem diakonisch- solidarischen Tun, sei es in einem
ansprechenden Gottesdienst oder sei es einfach in einem Kirchenraum.
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Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Hans-Ruedi Rüfenacht
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche