Weg-Wort vom 5. Juni 2007
Das Leben ist zweiseitig
Nur die richtig gespannten Saiten eines Streichinstrumentes erzeugen die
feinen Töne. Nur die gespannte Sehne eines Bogens ermöglicht den gezielten
Schuss des Pfeils. Das Leben ist stets zweiseitig. Es ist darum immer in
Spannung. Der Tod hingegen ist einseitig. Die Flucht in die Einseitigkeit
ist darum eine Flucht vor dem Leben.
Die Zufriedenheit und die Sehnsucht nach Mehr zum Beispiel sind die beiden
Seiten einer Spannung. Unser ganzes Leben ist ein ständiges Balancieren
zwischen diesen beiden Polen. Meine Zufriedenheit mit dem, was ich bin und
habe, verleitet mich dazu, aufzuhören zu fragen, unterwegs zu sein, mich zu
entwickeln. Die Sehnsucht nach Mehr lässt mich unzufrieden werden und
hindert mich, im Hier und Jetzt zu leben, ganz gegenwärtig zu sein.
Erst die Verbundenheit meiner Zufriedenheit mit der Sehnsucht, ihre
gegenseitige Verankerung, bewahrt sie vor der Einseitigkeit, lässt sie ihre
positive Gestaltungskraft zur Entfaltung bringen. Wie die Saiten einer Geige
in veränderten Verhältnissen nachgestimmt werden müssen, so muss ich das Auf
und Ab meiner Zufriedenheit stets mit meiner Sehnsucht ausbalancieren, um
die richtige Spannkraft meines Lebens zu erhalten. So kann ich zufrieden
sein und mich gleichzeitig nach Mehr ausstrecken.
Ich möchte mein Leben in der eigenen Hand haben. Ich weiss mich aber auch
vom Leben beschenkt, von Gott gehalten. Ich darf mich auch hier nicht in die
Einseitigkeit flüchten, sondern muss die Spannung zwischen beiden Seiten
aushalten. Ich brauche beide.
Ihre Verbundenheit und gegenseitige Verankerung lassen mich immer wieder
mein Bestes geben zur Gestaltung meines Lebens. Gleichzeitig erlauben sie
mir loszulassen, mich dem Fluss des Lebens anzuvertrauen, mein Leben in
Gottes Hand zu legen.
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Hauptbahnhof Zürich
Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Susanne Wey
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