Das Weg-Wort - Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 10. Oktober 2016
Ketten zerbrechen
Das hat mir die Arbeit in der Bahnhofkirche gezeigt: So leiden Menschen, Tag für Tag: An
Sterbebetten. Zuhause, allein, im Doppelbett, und der Lebenspartner fehlt. Draussen, im
Regen, der Verlust reisst am Herzen, weil die Mutter fehlt, weil das Kind genommen wurde.
Bleierne Schwere, finstere Stille. Gekettet an das, was sie erlebt haben. Dafür braucht es
keinen bestimmten Ort, das passiert überall. Tiefschwarz ist diese Lebenserfahrung. Von
Licht keine Spur. An Karfreitag steht bekanntlich die Zeit still. Die Sonne verschleiert
sich. Die Welt hält den Atem an. Keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen soll. Das sind
Lebenslinien von vielen, sehr vielen Menschen.
Und das habe ich gelernt: Wer zu neuem Aufbruch ruft, muss Ketten zerbrechen! Ein
Beispiel? Nicaragua, 1980. Der Dichter und Priester Ernesto Cardenal liest mit Bauern und
Bäuerinnen die Bibel. Er liest die Stelle von Jesus, Martha und der Auferweckung des
Lazarus. Menschen machen sich die Kraft des Evangeliums zu eigen. Sie brauchen diese
befreiende Energie, sie suchen und sie finden sie.
Und so deuten diese Bauern und Bäuerinnen das Zeichen, das Jesus an Lazarus vollbringt,
als Hinweis, dass der Tod den Menschen nicht zerstört. Sie erkennen darin ihr eigenes
Schicksal. Wie dem Lazarus die Schweisstücher vom Gesicht abgenommen werden, so wird ihr
eigenes Volk die Blindheit verlieren und wird kraftvoll für Gerechtigkeit eintreten. In
ihrer Lage, bevormundet, wie sie sind, hören sie diese Worte des Evangeliums und die
Ketten der Unterdrückung brechen entzwei. Die Auferstehung, die Jesus Christus schenkt,
reisst sie heraus aus ihrem Elend. Also machen sie ihren Rücken gerade, sie gestalten ihr
Leben, sie fordern Recht und Gerechtigkeit. Immer und immer wieder. So finden sie neues
Leben.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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