Weg-Wort vom 30. Juni 2006
Mit allen Sinnen glauben
Endlich hatte ich die Passhöhe erreicht. Was sich meinen Augen darbot,
lohnte jede Mühe. Ein weit verzweigtes Bachdelta glitzerte und strahlte im
Gegenlicht der Sonne, mitten im kräftigen Grün der Alpweide. Im Hintergrund
leuchteten die weissen Schneeberge, über mir der stahlblaue Himmel.
Minutenlang stand ich da, überwältigt von der Pracht dieses Anblicks,
staunend vor der Herrlichkeit der Schöpfung. Ich war ganz Auge. Ich nahm
nichts anderes wahr als die Schönheit und Dichte dieses Augenblicks. Für
einen Moment war alles einfach gut. Alles stimmte. Mit der Zeit erfüllte
mich eine tiefe Dankbarkeit und stille Freude.
Wir alle kennen solche sinnenfälligen Erlebnisse: beim betörenden Duft eines
Blütenstrauchs, beim Hören unserer Lieblingsmusik, beim Geniessen eines
schmackhaften Essens oder bei der zärtlichen Berührung eines uns lieben
Menschen. Wir überlassen uns dabei für Augenblicke ganz der sinnlichen
Wahrnehmung. Wir lassen uns von ihr erfüllen und erfahren eine tiefe
Gelassenheit, eine innere Ruhe und geniesserische Freude.
Für die Bibel ist die Gottesbeziehung nicht ein rein geistiger Vorgang. Der
Psalmist zum Beispiel lädt uns ein, die Güte Gottes auch sinnlich
wahrzunehmen: Kostet und seht, wie gütig der Herr ist (Ps 34,9). Der
Prophet Jesaja vergleicht Gottes Reich mit einem Mahl: Gott wird für alle
Völker ein Festmahl geben mit feinsten, köstlichen Speisen und besten,
erlesenen Weinen (Jes 25,6). Für den Apostel Paulus ist die Frohe
Botschaft, die wir leben, wie ein Wohlgeruch, der sich ausbreitet, zur Ehre
Gottes (2 Kor 2,14).
Die Bibel selbst also verweist uns auf den Reichtum unserer unmittelbaren,
sinnlichen Wahrnehmung. Denn da ist wirkliches Leben. Da erfahren wir uns
unmittelbar. Da sind wir uns selbst nah.
Geniessen wir solche Momente! Kosten wir sie aus! Nehmen wir sie lustvoll
und dankbar entgegen! Denn sie geben uns immer wieder eine Ahnung vom Reich
Gottes - und von seiner Nähe mitten in unserem Alltag.
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Hauptbahnhof Zürich
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