Weg-Wort vom 7. September 2006
Schöpferische Ruhezeiten
Der französische Kulturkritiker Paul Virilio nimmt in einem Buch Stellung
zum Thema Beschleunigung, einem Machtwort unseres Zeitgeistes. Er erblickt
in dieser unserer Beschleunigungsgesellschaft letztlich einen rasenden
Stillstand und meint: Unsere Zeit gleicht einem Wasserwirbel in einem
Flusslauf. Wer einmal ein Stück Papier oder Gras in einen solchen Strudel
geworfen hat, konnte beobachten: Hier herrscht eine enorme
Umlaufgeschwindigkeit, aber es kommt zu keinem Raumgewinn. Alles dreht sich,
aber es geht nicht vorwärts.
Aus dem rasenden Stillstand beschleunigter Modernisierungen ist nur
herauszufinden, wenn es Zeiten und Räume gibt, in denen es möglich wird,
diese stetige Beschleunigung zu unterbrechen. Die Beschleunigung muss
deshalb mit Verlangsamung gekoppelt werden. Von Fahrzeugingenieuren ist zu
lernen, dass man umso stärkere Bremsen braucht, je höher die Geschwindigkeit
eines Fahrzeugs ist. Es klingt paradox: Wer schneller fahren will, braucht
gute Bremsen. So müssen wir uns fragen: Haben wir in unserer modernen
schnelllebigen Welt entsprechende Bremsvorrichtungen eingebaut?
Solche Bremsvorrichtungen können Ruhe- und Auszeiten sein. Dabei aber sind
solche Ruhezeiten verkannt, wenn sie lediglich dem Auftanken von Kräften
dienen. Es gibt eine Freizeit, die einfach vom Alltag entlastet, damit man
nachher die Belastungen des kommenden Alltags umso besser übersteht.
Solche Freizeit ist nötig, aber wir brauchen auch Ruhezeiten, die den ganzen
Menschen regenerieren. Wir brauchen schöpferische Unterbrechungen, die unser
Leben in der richtigen Perspektive sehen, die uns nach dem Sinn, dem Warum
und Wozu fragen lassen.
Solch schöpferische Ruhepausen bieten die Religionen an. Ein Theologe sagte,
die kürzeste Definition von Religion laute: Unterbrechung. Religion darf
nicht nur unseren Alltag überhöhen und verklären, sie will ihn auch
unterbrechen. Sie dient der Besinnung auf den Sinn aller Zwecke. Religiöse
Auszeiten stellen die Frage, was es überhaupt heisst, am Leben zu sein; sie
stehen ausserhalb von allen Kosten/Nutzen-Erwägungen. Ökonomisch gesehen,
bringen sie keinen Gewinn. Statt dessen erfragen, erschliessen sie uns das
Unverrechenbare.
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