Weg-Wort vom 6. Juni 2007
Den Augenblick geniessen
Die Menschen in diesem Land, das ich besuchte, haben von aussen gesehen
wenig zu lachen. Sie bearbeiten ihre Felder zu einem grossen Teil mit der
Hacke und mähen ihre Wiesen mit der Sense. Ihre Politiker streiten sich
unablässig um die Macht und um die Pfründen für sich und ihre Gefolgsleute.
Das Volk erhält ihre Aufmerksamkeit nur in den wohlgeformten Worten ihrer
Reden. Und dennoch habe ich schon lange nicht mehr so viele Menschen lachen
und singen gesehen.
Ihr Lachen war spontan, kam von Herzen. Sie freuten sich an dem, was im
Moment gerade war. Sie genossen den Augenblick. Ich spürte auch ihren
starken Willen, jede sich bietende Gelegenheit für ihr Fortkommen zu nutzen,
mit ganzer Kraft und grossem Engagement. Mir schien, dass gerade auch ihr
herzliches Lachen, ihre spontane Freude am Leben sie dazu befähigte.
Wieder zuhause fielen mir die vielen nüchternen, ernsten, ja verdrossenen
und mürrischen Gesichter auf. Haben wir so wenig zu lachen? Wo ist unsere
Lebensfreude geblieben?
Das Kind in uns weiss noch um sie. Wir tragen alle in uns den Samen der
Freude, das Ferment der Leichtigkeit, das den Teig unseres Lebens
durchsetzt.
Unsere Seele geht auf, wenn wir herzhaft lachen oder singen, wenn wir uns
wie Kinder an Kleinigkeiten freuen, etwas Ungewöhnliches tun, mit einem
verrückten Einfall uns selbst und andere überraschen, wenn wir neugierig
sind auf uns selbst und die Menschen um uns, wenn wir immer wieder den
Moment geniessen.
Auf die Frage: Warum fasten deine Jünger nicht? antwortet Jesus: Können
die Hochzeitsgäste fasten, solange der Bräutigam unter ihnen ist? (Mk
2,18-22)
Mit Jesus ist das Reich Gottes für uns gegenwärtig geworden. Wir sind seine
Hochzeitsgäste! Stets von neuem eingeladen, den Augenblick zu geniessen, das
Leben zu feiern, uns an dem zu freuen, wer wir sind und was wir haben.
Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe.
(Rabindranâth Tagore)
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Hauptbahnhof Zürich
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