Das Weg-Wort - Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 9. November 2018
Vergleiche
Sie wissen es selbst. Zu vergleichen ist manchmal heikel und nicht immer
zielführend - aber spannend ist es trotzdem. Ich wage darum eine Art unserer
Besucher mit einer existierenden politischen Haltung zu vergleichen.
Es kommen Menschen zu uns, die alle Brücken hinter sich abgerissen haben:
Sie haben kein Geld mehr, haben eine oder mehrere Nächte draussen verbracht,
sind völlig abgebrannt. Und wenn wir im Gespräch nach Beziehungen fragen,
nach Eltern, Geschwistern, Verwandten, Freunden, Bekannten, stossen wir
immer wieder ins Leere.
Die totale Ungebundenheit und Unabhängigkeit zeigt erst jetzt ihre hässliche
Fratze. Wenn die Kleider vor Schweiss klebrig werden und man sich selbst
kaum mehr riechen mag, wenn man vor Tagen sich das letzte Mal duschen oder
waschen konnte, dann fährt die Unabhängigkeit erst richtig ein. Betteln kann
einem die letzte Würde rauben. Ich denke jetzt nicht an Menschen, die aus
ihrer gewohnten Umgebung durch irgendetwas herauskatapultiert wurden,
sondern eher an solche, die sie für sich wollten und suchten. Sie merken auf
einmal: Da ist nichts mehr, auf das sie zählen können, nichts Vertrautes,
Gewohntes, Bewährtes.
Ein Wunschtraum hat sich ganz schnell als Alptraum entpuppt.
Erst eingebunden in ein tragendes Beziehungsnetz, können wir uns frei und
ungebunden bewegen. Es scheint ein Widerspruch zu sein, ist es aber nicht.
Wirkliche Unabhängigkeit erreichen wir nur dort, wo wir unsere
Abhängigkeiten mitgestalten können. Unabhängigkeitsfantasien bringen uns
bewusst oder unbewusst an den Rand einer tödlich tiefen Schlucht. Es lohnt
sich nicht, ohne Gleitschirm zu springen.
Persönlich, gesellschaftlich und politisch sind wir erst richtig frei, wenn
wir uns binden.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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