Weg-Wort vom 4. Mai 2010
Von Horizont zu Horizont
Als Jugendlicher dachte ich, wenn ich dann erwachsen bin, weiss ich, wie das
Leben funktioniert. Also wartete ich ungeduldig auf diese Zeit. Als ich
endlich erwachsen war, fühlte ich mich aber gar nicht so. Ich wusste vieles
noch nicht. Ich war in manchem unsicher. Die Probleme und Sorgen waren zwar
anders, aber sie waren nicht weniger.
Zuerst dachte ich, dass mit mir etwas nicht stimme. Denn ich fühlte mich
nicht zugehörig zur Welt der Erwachsenen. Erst in Gesprächen mit
vermeintlich Wissenden entdeckte ich, dass es ihnen ja ähnlich erging. Ich
erkannte, dass das Erwachsensein ein steter Prozess zwischen Nicht-Wissen
und Wissen bleibt und ein lebenslanges Lernen bedeutet.
Trotz dieser Erkenntnis kam auch später immer mal wieder der Wunsch auf,
dass es doch schön wäre, endlich einmal angekommen zu sein, das Leben im
Griff zu haben, es ohne grosse Sorgen einfach geniessen zu können. Aber das
Bleiben ist uns nicht beschieden. Das Leben stellt uns mit jedem
Altersabschnitt und dazu oft noch unverhofft vor neue Herausforderungen, die
es zu bewältigen gilt.
Für mich ist das Leben wie ein stetes Wandern von einem Horizont zum
anderen. Bin ich oben angekommen, weitet sich meine Sicht des Lebens. Ich
geniesse den Überblick nach vorn auf das, was mich erwartet, und zurück
auf das, was war. Unten im Tal ist mein Blickfeld eingeengter, ausgerichtet
auf das, was gerade ansteht, was meine volle Aufmerksamkeit und mein ganzes
Engagement erfordert. Bin ich wieder oben nach vielleicht grösseren Mühen
und Anstrengungen eröffnet mir der nächste Horizont im Blick nach vorn,
zurück und in mich hinein ganz neue Möglichkeiten, Sichtweisen und
Erfahrungen.
So weitet sich mein Leben von Horizont zu Horizont. Es wird vielfältiger,
reicher, erfüllender. Auch wenn ich mich immer mal wieder nach dem Bleiben
sehne, so freue ich mich doch stets von neuem auf den nächsten Horizont, den
das Leben mir bereit hält. Ganz im Sinne auch von Christa Spilling-Nöker,
bzw. Karl Rahner:
Wir bleiben Suchende und Werdende ein Leben lang. Im Unterwegssein zu uns
selbst finden wir heim.
Uns selbst anzunehmen als ein unverstandenes, erst langsam sich
enthüllendes Geschenk der ewigen Güte Gottes das ist die Weisheit und die
grosse Tat eines christlichen Lebens.
Wir wünschen Ihnen einen guten und gesegneten Tag!
Die Seelsorgenden der Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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