Weg-Wort vom 29. Juli 2010
Der Schatten
Es war einmal ein Mann, den verstimmte der Anblick seines eigenen Schattens
so sehr, der war so unglücklich über seine eigenen Schritte, dass er
beschloss, sie hinter sich zu lassen. Er sagte zu sich: Ich laufe ihnen
einfach davon. So stand er auf und lief davon. Aber jedesmal, wenn er seinen
Fuss aufsetzte, hatte er wieder einen Schritt getan, und sein Schatten
folgte ihm mühelos. Er sagte zu sich: Ich muss schneller laufen. Also lief
er schneller und schneller, bis er tot zu Boden sank. Wäre er einfach in den
Schatten eines Baumes getreten, so wäre er seinen eigenen Schatten
losgeworden, und hätte er sich hingesetzt, so hätte es keine Schritte mehr
gegeben. Aber darauf kam er nicht.
Bisweilen möchten wir wohl alle unseren eigenen Schatten los werden, jenen
hartnäckigen Begleiter, der unsere dunklen Seiten symbolisiert. Wir können
rennen, im Zickzack laufen oder im Kreis unser Schatten ist immer dabei.
Wenn dann noch jemand zu uns sagt: Du müsstest halt mal bereit sein, über
deinen eigenen Schatten zu springen, so kann das durchaus ein Anlass zur
Krise sein. Denn wie sollte ich es schaffen, über meinen eigenen Schatten zu
springen? Wenn er nicht hinter oder neben mir ist, so wird er doch vor mir
sein. Er klebt an den Füssen wie Pech, das ich nicht los werde. Er ist ein
Teil meiner selbst, auch dann noch, wenn ich an ihm arbeite, ihn verändere.
Er gehört zu mir.
Wie gelingt es uns, mit diesen dunklen Seiten zu leben, uns gar mit ihnen
auszusöhnen und sie als Teil unserer Persönlichkeit anzunehmen? Die von
Dschuang Dse überlieferte Geschichte ist ein Beispiel dafür.
Wenn wir vor uns selber davonlaufen wollen wie jener Mann, hetzen wir uns
dauernd selbst und kommen nie zur Ruhe. Unter einem Baum hingegen könnten
wir in der erfrischenden Kühle sogar Gottes heilende Nähe spüren und die
ersehnte Ruhe finden. Weil dann nämlich auch unser Schatten ruht.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
(c) Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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