Weg-Wort vom 10. Oktober 2006
vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern
Einer handvoll Menschen verdanke ich sehr viel. Ohne sie wäre ich nicht, wer
ich heute bin. Ich vermag zwar nicht genug wertzuschätzen, was sie für mich
und mein Leben bedeuten. Ich bin ihnen nur unendlich dankbar und weiss,
dass sie etwas gut haben bei mir, dass ich in ihrer Schuld stehe, dass ich
ihnen nie zurückgeben kann, was sie mir gegeben haben.
Ähnlich muss Jesus Gott gegenüber empfunden haben, als er in der
ursprünglichen Fassung dieses Vaterunser-Verses zu ihm betete: Erlass uns
unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen.
Schulden haben und Schulden erlassen war zur Zeit Jesu selbstverständlicher
Alltag. Man half sich gegenseitig aus, sei es mit Lebensmitteln oder Geld.
Wenn einer in einer Notlage seine Schulden nicht zurückgeben konnte, wurden
sie ihm oft grosszügig erlassen. Man wusste, dass man in einer ähnlichen
Situation genau so froh darum wäre.
Wer so wie Jesus betet, weiss, dass Gott ihm alles gegeben hat, dass er ihm
alles verdankt:
das eigene Leben, die Menschen, die ihn lieben, seine Begabungen und
Möglichkeiten, alles was er besitzt... Auch das Selbsterarbeitete, denn er
weiss, dass er es seinen von Gott erhaltenen Fähigkeiten, den Umständen, den
Mitmenschen und den früheren Generationen zu verdanken hat.
Alles ist für ihn unverdientes Geschenk Gottes, das ihn immer wieder mit
Staunen und tiefer Dankbarkeit erfüllt. Er weiss, dass er in der Schuld der
unbedingten Liebe Gottes steht, die er nie auch nur ansatzweise begleichen
kann. Er weiss aber auch, dass Gott ihm die Schulden schon längst erlassen,
die Schuld vergeben hat. Darum ist dieser Vers eigentlich keine Bitte,
sondern ein Lobpreis und ein Dank:
Du hast uns alles gegeben. Erlass uns, was wir dir nie und nimmer
zurückgeben können so wie wir es unter einander auch tun.
Das Letztere ist dabei Feststellung und ermutigendes Vorhaben zugleich.
Dieser Urfassung wurde sehr bald eine weitere, die heute noch gebräuchliche
Bedeutung gegeben: Vergib uns unsere Schuld unsere Fehler, Untaten und
Versäumnisse wie auch wir unsern Mitmenschen vergeben, die an uns schuldig
geworden sind.
Auch hier ist die Vorgabe Gottes für uns Ansporn und Ermutigung, dasselbe
mit unsern Mitmenschen zu tun. Weil wir ihn als Vergebenden erfahren, werden
wir fähig, unsererseits zu vergeben.
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