Weg-Wort vom 16. August 2007
Nachtherbergen für die Wegwunden (Nelly Sachs)
Das heutige Wegwort nimmt seinen Ausgangspunkt in einem Ausschnitt eines
David-Gedichtes der jüdischen Dichterin Nelly Sachs. Sie ist 1970 gestorben
nach einem leidvollen Leben, geprägt vom Mitleiden des schrecklichen
Schicksals ihres Volkes. Wir lesen da:
....im Mannesjahr
mass er, ein Vater der Dichter,
in Verzweiflung
die Entfernung zu Gott aus,
und baute der Psalmen Nachtherbergen
für die Wegwunden.
Die Dichterin spricht hier ihre eigene Lebenserfahrung David, dem König und
Dichter des Alten Testaments, zu. Dem erwachsenen Menschen David ist im
Mannesjahr begegnen auf seinem Weg viele Probleme und Schwierigkeiten, so
dass der einfache Gottesglaube der Kindheit hohen Belastungen ausgesetzt
ist. Gott scheint verzweifelt fern zu sein. Der Weg auf Gott hin dünkt immer
weiter statt kürzer zu werden. Der lange Weg lässt den Menschen sich
wundlaufen. Er bekommt Wegwunden. Dem suchenden Menschen kann das zum
ernsten Zweifel an Gott selbst werden. Gibt es ihn überhaupt? Wo ist er?
David und nicht nur er - sehnt sich nach Herbergen auf dem Weg, nach
Orten des Ausruhens, der Erholung, nach einem Ort, wo er nicht mehr den
Unbilden des Wetters ausgesetzt ist. Die Nachtherbergen sprechen von den
Dunkelheiten und Dunkelzeiten des Lebens, wo alles in schwarz gemalt zu sein
scheint und alles zuviel wird.
In Nelly Sachs Gedicht findet David solche Herbergen nicht, er baut sie
selbst, indem er Psalmen dichtet. In diesen alten Gebeten scheint die
Dichterin ihrerseits Herbergen für die Nächte ihres Ringens gefunden zu
haben. Über das Psalmengebet als Lebenshilfe für schwierige Stunden hat ein
anderer Dichter, Rainer M. Rilke, geschrieben: Ich habe die Nacht einsam
hingebracht in mancher innerer Abrechnung und habe schliesslich ... die
Psalmen gelesen, eines der wenigen Bücher, in denen man sich restlos
unterbringt, mag man noch so zerstreut und ungeordnet und angefochten sein.
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