Weg-Wort vom 14. Oktober 2011
Wo ist das Monument?
Auch in unser der Familie gibt es die Verwandten in Amerika. Sie kamen vor 2
Jahren für einen Besuch in die Schweiz. Meine Schwester nahm sich Zeit und
zeigte dem älteren Ehepaar die Schweiz. Die Verwandten, in der dritten
Generation in Amerika, sprechen kein Deutsch mehr. Sie sind "richtige
Amerikaner". Die Schweizergeschichte ist ihnen aber bestens bekannt. Den
Wilhelm Tell von Schiller haben sie gelesen, und so wollten sie natürlich
den Ort der Entstehung der Schweiz sehen. Nach einer ruhigen Schifffahrt auf
dem Vierwaldstättersee kamen sie aufs Rütli. Sie schauten alles an, zückten
den Fotoapparat und fragten dann: "Where is the Monument?" Meine Schwester
war zuerst irritiert und lachte dann herzhaft. Wo ist das Monument?
Ich habe die Rütliwiese schon als Schulkind besucht, noch nie ist mir
aufgefallen, dass es gar kein Monument gibt. Es ist doch die Wiese, der Ort,
das Geschehen, das ist wichtig.
Die Geschichte vom Tell, dem Freiheitskämpfer (auch wenn sie nur gut
erfunden ist) gefällt mir. Ich sehe ihn als einen Schweizer, der sich
einsetzt für Gerechtigkeit, der Unterdrückung nicht zulässt. Und so wünsche
ich mir nicht ein Monument, nicht ein Denkmal für Vergangenes. Was ich mir
wünsche sind Menschen, die Denkwürdiges leisten. Wie zum Beispiel die 3,2
Millionen Menschen, die sich in mehr als 150 Ländern mit Amnesty
International engagieren. Die Organisation deckt Verletzungen der
Menschenrechte auf, kämpft gegen Folter, gegen das "Verschwindenlassen" von
Menschen und gegen die Todesstrafe. Das ist ein lebendiges Monument. Das
sind Denkmäler, die wir brauchen, das ist wichtig für die Zukunft unseres
Landes, für die Zukunft unserer Welt. Ich werde wieder auf die Rütliwiese
gehen und lächeln über die Frage: "Wo ist das Monument?" und mich freuen
über alle Ansätze von "anderen Monumenten", die Wirkung zeigen und unsere
Welt eine menschlichere werden lassen.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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