Weg-Wort vom 3. Dezember 2008
In den Tiefen der Seele
von Anselm Grün
Je länger ich Menschen begleite, desto deutlicher wird mir, dass wir alle
an den gleichen Mustern unserer Seele leiden, an den Mustern von
Perfektionismus, vom Zwang, uns beweisen zu müssen, uns mit anderen zu
vergleichen.
Die Spiritualität der Wüstenväter führt uns einen Weg in die innere
Freiheit. Sie erlaubt es uns, die eigene Wirklichkeit anzuschauen, ohne sie
ständig zu bewerten oder zu beurteilen.
In Gesprächen erlebe ich immer wieder, wie die Menschen Angst haben, in das
eigene Herz zu schauen. Da könnten sie ja all dem Dunklen und Verdrängten
begegnen, vor dem sie lieber die Augen verschliessen. Doch wer ein so
pessimistisches Selbstbild hat, lebt immer in Angst vor sich selbst.
Die Wüstenväter laden uns ein, ohne Angst in alle Abgründe unserer Seele zu
schauen, weil sie überzeugt sind, dass auch in der grössten Dunkelheit das
Licht Jesu Christi leuchtet und dass alles Dämonische in uns vom Geist Jesu
verwandelt werden kann. Sie wagen es, in die eigene Tiefe hinabzusteigen,
weil sie darauf vertrauen, dass Jesus Christus sie bei der Hand nimmt und
mit ihnen hinabsteigt. Und Jesus schenkt ihnen das Vertrauen, dass sie mit
allem, was sie in sich vorfinden, von Gott bedingungslos angenommen und
geliebt sind...
Gerade unsere immer rauer werdende Geschäftswelt weckt in uns die Sehnsucht
nach einer Spiritualität, die uns in die innere Freiheit führt, die uns
einlädt, den Raum der Stille in uns zu entdecken, zu dem der Lärm dieser
Welt keinen Zutritt hat. Jeder von uns trägt in sich einen Ort des
Schweigens. Oft sind wir davon abgeschnitten. Wir haben die Berührung mit
unserem Herzen verloren.
Die Wüstenväter ermutigen uns, in den heiligen Raum des Schweigens
einzutreten. Er ist dem Terror der Welt entzogen. Dort wo Gott in uns wohnt,
sind wir heil und ganz. Dort kann uns niemand verletzen. Dort sind wir auch
frei. Die Erwartungen der Menschen, ihre Ansprüche und Beurteilungen haben
dort keinen Zutritt.
Wer den Weg christlicher Spiritualität geht, dem so sagt der heilige
Benedikt weitet sich das Herz
Gott so sagen die Mönche vermag nur in
einem weiten Herzen zu wohnen. Und das weite Herz ist offen für die Nöte
unserer Brüder und Schwestern um uns her. In diesem weiten Herz öffnet sich
für uns der Himmel und wir erfahren Gottes heilende und liebende Nähe. Und
zugleich geht dann durch uns der Himmel auf über den Menschen, denen wir
begegnen.
© Bahnhofkirche
Hauptbahnhof Zürich
Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Susanne Wey
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