Weg-Wort vom 29. Mai 2008
Doppelte Treue
Von Thales von Milet, einem berühmten Philosophen aus dem alten
Griechenland, wird eine Anekdote überliefert, die sich gut eignet, sie auf
unser Leben als Christen und Christinnen zu übertragen. Von Thales wird
berichtet, dass er danach trachtete, die Himmelsgesetze zu erforschen, nach
denen sich Sterne, Sonne und Mond bewegen. Im Stehen und Gehen soll er
deshalb stets seine Augen zum Himmel gerichtet haben. Als er wieder einmal
so angestrengt nach oben blickte, ist er in eine Grube gefallen. Da hat die
ihn begleitende Magd laut gelacht und ihm zugerufen: Du kannst nicht sehen,
was dir vor den Füssen liegt, und erwähnst erkennen zu können, was am Himmel
vor sich geht.
Das sind Worte einer beschlagenen Magd, die mit beiden Füssen auf dem Boden
der Wirklichkeit steht. Sie hat den weisen Philosophen gelehrt, was wirklich
weise ist: den Boden unter den Füssen nicht zu verlieren und das
Nächstliegende zu tun. Die Worte der Magd erinnern uns an die Worte der
Engel bei Jesu Aufnahme in den Himmel. Als seine Anhänger angestrengt zum
Himmel schauen, sagen diese: Was steht ihr da und schaut zum Himmel empor
(Apg 1, 11)? Fast hört man die Mahnung mit: Hängt nicht vergangenen Zeiten
nach. Geht an die Arbeit und tut, was jetzt notwendig ist. Gestaltet das
Leben hier. Bleibt der Erde und ihren Aufgaben treu.
Um der Erde und ihren Aufgaben treu bleiben zu können, müssen wir aber auch
Partei ergreifen für Thales, der die Gesetze des Himmels studiert. Die Magd
weiss wohl, was unter ihren Füssen wirklich ist, aber sie weiss nicht, was
alles über ihrem Haupt möglich ist. Jesu Leben, Sterben und Auferstehen hat
uns von den Weiten gesprochen, für die wir geschaffen und die uns verheissen
sind. Es sind die Weiten des Reiches Gottes, in dem Friede und Gerechtigkeit
herrschen.
So sind uns beide Gestalten sympathisch. Die Magd, die mit beiden Füssen auf
dem Boden der Wirklichkeit steht, und Thales, weil er einen Blick in die
unendlichen Weiten des Himmels wirft. Beides tut uns heute not: Wir müssen
der Erde und ihren Herausforderungen treu bleiben. Aber auch der Blick zum
Himmel muss uns zurückgegeben werden, damit wir wissen, wozu wir geschaffen
sind. Der Erde treu bleiben, weil wir dem Himmel treu sind. Das wäre
christliches Leben.
© Bahnhofkirche
Hauptbahnhof Zürich
www.bahnhofkirche.ch
Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Susanne Wey
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche