Weg-Wort vom 30. November 2006
Genug Licht
Ich kann nicht mehr glauben! können wir manchmal hören. Es gibt
Situationen, in denen sich unser Leben verfinstert. Verschiedenes läuft
anders, als wir es uns vorgestellt haben. Schicksalsschläge, Unrecht,
Ungerechtigkeiten, die Macht des Bösen in der Welt lassen uns an einem Gott,
der alles in Händen hält, zweifeln. Gibt es überhaupt einen letzten Halt im
Leben? Was wir einmal als Glaube angeschaut haben, wird in Frage gestellt.
Solche Situationen fordern uns heraus zu überlegen, was Glaube eigentlich
heisst.
Ein Blick in die Wortgeschichte weist uns auf interessante Aspekte hin. Im
Judentum wird für glauben meist die Vokabel aman verwendet: sich an
etwas festmachen. Damit ist gemeint: Ich verlasse mich auf... ich binde
meine Existenz an... Hier geht es also zentral um Vertrauen und um eine
Form von Bindung, ja Lebensübergabe.
Diese Bedeutung finden wir auch im Lateinischen, das das Verb credere
benützt. Die Bestandteile von credere bedeuten Herz und setzen, legen,
stellen, was zusammengesetzt bedeuten kann: sein Herz (auf etwas) setzen.
Wir spüren beim Glauben geht es nicht um ein Wissen oder Nicht-Wissen,
nicht um klare Abgrenzungen und Sicherheiten. Es geht wesentlich um die
Hingabe an einen Gott, dem wir uns anvertrauen können auch in Dunkelheit
und Zweifel.
Romano Guardini, ein bekannter geistlicher Schriftsteller, hat selber viele
Anfeindungen durchlebt. Einer seiner Texte kann uns vielleicht helfen, zu
einem vertieftem Glaubensverständnis zu finden:
Der Glaube ist die Fähigkeit,
die eigenen Zweifel zu ertragen.
Der Glaube, das ist die Armut:
er ist nicht das volle Licht,
er besteht nicht darin,
dass man alles weiss,
er besteht darin,
dass man genug Licht hat,
seine Finsternis zu ertragen.
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Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
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