Weg-Wort vom 26. August 2008
Trauer als ein Weg zu einem erfüllten Leben
Viele leiden an einem ungelebten Leben. Sie leben nicht wirklich. Sie
verschliessen ihren Blick vor den Defiziten
an Liebe, an Wertschätzung, an
Zuwendung. Der Blick auf den Mangel in ihrem Leben würde zu weh tun. Sie
schauen nicht in ihr Herz, sondern nur nach aussen, ob da genug zu haben
ist, was ihren Mangel ausgleicht. Doch je mehr sie nach aussen blicken,
desto leerer wird ihr Herz, desto weiter entfernen sie sich von sich selbst.
Und irgendwann erkennen sie: ich habe nie gelebt. Sie sind nicht in
Berührung gekommen mit sich selbst, weil sie den Schmerz nicht aushalten,
der dann aufbrechen würde.
In dieser Situation sehnt sich der Mensch
danach, dass er in der oft
harten Realität mit ihren vielen Verlusterfahrungen dennoch die Fülle des
Lebens zu erfahren vermag. Er möchte der Wirklichkeit ins Auge sehen und
dort, wo er in seiner Begrenzung ist, dennoch das grenzenlose Glück
erfahren. Er ahnt, dass das nur über die Trauer geht. Aber er weiss nicht,
wie ihm das gelingen soll. In diese Situation hinein spricht Jesus:
Glücklich sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.
Jesus beschreibt die Trauer als einen Weg zum Glück. Trauern heisst für mich
in erster Linie: Abschied nehmen von den Illusionen, die man sich über sich
selbst und die Zukunft gemacht hat. Ich kenne viele Menschen, die sehr
unglücklich sind, weil sie an ihnen festhalten
Sie klammern sich an die
Illusion, dass alles glatt geht, dass sie immer Erfolg haben und den
Traumberuf und die Traumpartnerin bekommen. Wenn das Leben ihre Illusionen
nicht einlöst, dann jammern sie wie ein kleines Kind, das nicht bekommt, was
es unbedingt will.
Die Bedingung, zu einem glücklichen Leben zu finden, besteht in der
Bereitschaft, meine Illusionen zu betrauern und mich auf die Wirklichkeit
einzulassen, so wie sie ist. Trauern ist ein Weg, mich der Wirklichkeit zu
stellen und frei zu werden von den Illusionen, mit denen ich mir selbst die
Wirklichkeit verstelle. In der Trauer gehe ich dem Schmerz nicht aus dem Weg
Durch die Trauer hindurch kann ich mich dann aussöhnen mit mir, so wie ich
bin. Ich nehme mich an, in meiner Brüchigkeit, in meiner Begrenztheit, aber
auch in meiner Einmaligkeit und meinem wahren Wert.
Das, was ich nicht leben kann, wird durch das Betrauern herbeigerufen. Es
kommt von einer anderen Seite her neu auf mich zu. Jesus zeigt uns einen
realistischen Weg zum glücklichen Leben. Er übergeht nicht die Schmerzen,
die Verzweiflung und die Depression, die heute viele heimsuchen. Die
Glücksphilosophie, die uns heute angeboten wird, hat diese Seiten
übersprungen. Jesus zeigt uns einen Weg, durch die Dunkelheiten und
Talsohlen unseres Lebens hindurch, zu einem gelingenden Leben. Die Worte
halten uns lebendig. Sie führen nicht zur Erstarrung, sondern zur Lust, auf
dem Weg des Lebens voranzuschreiten. Anselm Grün
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