Weg-Wort vom 5. Dezember 2006
Die Sehnsucht aushalten
Wer möchte nicht die schönsten Augenblicke seines Lebens festhalten und
wünschen, sie sollten nie vergehen? Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe,
tiefe Ewigkeit, sagt ein unbekannter Dichter.
Die Sehnsucht nach mehr steckt tief in uns drin. Wir geben uns nicht so
schnell zufrieden mit den Gegebenheiten dieser Welt:
Wir suchen das ewig Schöne, die radikale Wahrheit, das wahrhaft Gültige,
das, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Wir sehnen uns nach dem Geheimnis, das unserm persönlichen Leben gültigen,
ja endgültigen Sinn verleiht.
Wir verzehren uns in der unendlichen Sehnsucht, ganz tief und ur-gründlich
verstanden zu werden, angenommen, bejaht und geliebt zu sein. Dass eine/
einer sich einfühlt in mich, dass einer/eine meinen Weg, mein Leben, all
meine Ängste und Nöte, meine Hoffnungen und Freuden, meine Wünsche und
Begierden kennt.
Die Advents- und Weihnachtszeit bringt uns mit ihren Lichtern, mit den
Erinnerungen an Wärme, Liebe und Geborgenheit immer wieder in Berührung mit
der Ur-Sehnsucht nach dem Endgültigen, dem Wahren, der unbedingten Liebe.
Mit dieser Sehnsucht, die immer Sehnsucht bleibt. Die keine Erfüllung findet
in dieser Welt, die nur Vorläufigkeit und keine Endgültigkeit kennt.
Der Advent will uns Mut machen, die unerfüllbare Sehnsucht nach dem
Endgültigen auszuhalten. Mit ihr zu leben. Ja zu sagen zur eigenen
Vorläufigkeit. Dass alles menschliche Leben, dass all unser Denken und
Handeln, unser Mühen und Leisten stets nur vorläufig ist.
Wird der Vorweihnachtsrummel vielleicht deshalb immer lauter und bunter,
damit wir die unerfüllbare Sehnsucht nicht spüren müssen?
Ist die Sucht, erfüllbare Wünsche gerade in dieser Zeit so stark zu
befriedigen, vielleicht der hilflose Versuch einer Antwort auf diese
unerfüllbare Ur-Sehnsucht?
Wer mit der unerfüllbaren Sehnsucht zu leben weiss, wer das Vorläufige
lieben lernt, der ist offen für das Endgültige. Ihm öffnet sich die
Möglichkeit, in der sich Zeit und Ewigkeit für einen Augenblick berühren.
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Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
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