Weg-Wort vom 5. November 2008
Wirkliches Leben
Manche Menschen sind nur selten sich selber. Sie bemühen sich, es allen
recht zu machen. Sie versuchen, gut da zu stehen vor sich selbst und
vor anderen. Sie realisieren dabei oft lange Zeit nicht, wie sehr das
eigentliche Leben an ihnen vorbei geht. Hermann Hesse hat dies auf seine ihm
eigene Weise beschrieben:
Zuzeiten spürte er, tief in der Brust, eine sterbende, leise Stimme, die
mahnte leise, klagte leise, kaum dass er sie vernahm. Alsdann kam ihm für
eine Stunde zum Bewusstsein, dass er ein seltsames Leben führe, dass er da
lauter Dinge tue, die bloss ein Spiel waren, dass er wohl heiter sei und
zuweilen Freude fühle, dass aber das eigentliche Leben dennoch an ihm vorbei
fliesse und ihn nicht berühre.
Wie ein Ballspieler mit seinen Bällen spielt, so spielte er mit seinen
Geschäften, mit den Menschen seiner Umgebung, sah ihnen zu, fand seinen
Spass an ihnen; mit dem Herzen, mit der Quelle seines Wesens war er nicht
dabei. Die Quelle lief irgendwo, wie fern von ihm, lief und lief unsichtbar,
hatte nichts mehr mit seinem Leben zu tun.
Und einigemal erschrak er ob solchen Gedanken und wünschte sich, es möge
doch auch ihm gegeben sein, bei all dem kindlichen Tun des Tages mit
Leidenschaft und mit dem Herzen beteiligt zu sein, wirklich zu leben,
wirklich zu tun, wirklich zu geniessen und zu leben, statt nur so als ein
Zuschauer daneben zu stehen.
Wir sind am lebendigsten, wir leben wirklich, wenn wir ganz bei uns sind.
Wenn
unsere gesammelte Aufmerksamkeit auf das gerichtet ist, was gerade ist, was
wir im Moment tun. Zum Beispiel: Die kühle Luft wahrnehmen, wenn ich morgens
das Haus verlasse. Mein Dahinschreiten bewusst erleben. Den ersten
Sonnenstrahl auf meinem Gesicht geniessen. Die Türklinke in meiner Hand
spüren und erfahren, wie es sich anfühlt, wenn ich den Raum betrete.
Natürlich können wir nicht den ganzen Tag so bewusst mit unseren Sinnen
erleben. Das wäre eine Überforderung. Wir brauchen auch das Zuschauen, das
Beobachten und Nachdenken. Aber es ist eine gute Übung, diese unmittelbare
Achtsamkeit immer wieder bewusst zu pflegen.
Denn wer mit all seinen Sinnen ganz gegenwärtig ist bei dem, was er tut, der
beginnt selbst zu leben, anstatt gelebt zu werden. Der kommt in Berührung
mit seinem wahren Wesen. Wo wir aber ganz uns selbst sind, ist Gott uns
nahe.
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Hauptbahnhof Zürich
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