Weg-Wort vom 22. Dezember 2008
Sehnsucht
Wieder ist die Zeit der langen Dunkelheit. Meinen Weg zur Arbeit und den
Heimweg erlebe ich im Dunkeln. Wenn dann noch der Himmel bedeckt ist oder
Nebel herrscht, wächst meine Sehnsucht nach Sonne und Licht. Die warmen
Lichter an Bäumen und Fenstern sind mir dann nur ein wenig Ersatz.
Wenn draussen weniger zu sehen ist, ist es eine naheliegende Gelegenheit,
unsere Aufmerksamkeit mehr nach innen zu richten. Die fehlenden
Sinneseindrücke von aussen geben dem inneren Empfinden mehr Raum und
Geltung. Es ist die Zeit, Einkehr zu halten, uns auf uns selbst zu besinnen.
Anstatt vorschnell Lichter anzuzünden und innere Regungen mit dem
Weihnachtsrummel zuzudecken, laden uns diese Tage ein, uns auch unseren
Dunkelheiten zu stellen: Da sind vielleicht ungeweinte Tränen, eine innere
Leere oder nicht gelebtes Leben. Wir entdecken unseren Mangel an erfüllender
Beziehung und Freundschaft, an Möglichkeiten, uns selbst zu begegnen, an
Lebensfreude und Sinnerfahrung.
Im Wahrnehmen unserer Dunkelheiten entdecken wir vielleicht unsere
ungestillte Sehnsucht wieder. Im Aushalten des Mangels kann sie wachsen, die
Sehnsucht nach einem erfüllten Leben, unsere Vision von einer anderen,
besseren Welt.
Die Weihnachtszeit mit ihren Erinnerungen an Wärme, Liebe und Geborgenheit
bringt uns in Berührung mit der unendlichen Sehnsucht, ganz tief und
ur-gründlich verstanden zu werden, angenommen, bejaht und geliebt zu sein.
Dass eine/einer sich einfühlt in uns, dass einer/eine unseren Weg, unser
Leben, all unsere Ängste und Nöte, Hoffnungen und Freuden, unsere Wünsche
und Begierden kennt.
Es ist eine Sehnsucht, die immer Sehnsucht bleibt. Die keine Erfüllung
findet in dieser Welt, die nur Vorläufigkeit und keine Endgültigkeit kennt.
Weihnachten, der menschgewordene Sohn Gottes, lädt uns ein, all das
Menschliche, Unvollkommene und Vorläufige mit seinen Licht- und
Schattenseiten anzunehmen - es auszuhalten.
Weihnachten lädt uns aber gleichzeitig ein, diese tiefe Sehnsucht, den
Glauben an unsere göttliche Herkunft und unsere Erfüllung in der
bedingungslosen göttlichen Liebe, stets wach zu halten. Denn sie treibt uns
um, macht uns unruhig und lässt uns immer wieder neu den Aufbruch wagen.
Gerade diese Spannung zwischen der Annahme der Realität unseres Menschseins
und unserer ungestillten Sehnsucht ist es, die uns wachsen und reifen lässt.
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Hauptbahnhof Zürich
Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Susanne Wey
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