Weg-Wort vom 22. Februar 2011
Mit den Augen Gottes sehen
Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch schrieb einmal: "Es ist
bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am
mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach... Wir wissen,
dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie
entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste,
das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Mal. Die Liebe befreit
aus jeglichem Bildnis.
Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass
wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden: weil wir sie
lieben, solange wir sie lieben. . . Du wirst dir kein Bildnis machen, heisst
es von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige
in jedem Menschen, das, was nicht erfassbar ist."
Nach Max Frisch macht sich der Liebende kein Bild, weder von sich noch vom
anderen. Weil wir das Lebendige, das Göttliche in jedem Menschen sowieso mit
keinem Bild erfassen können. Aber genau das tun wir ständig: Wir überstülpen
uns und andere laufend mit den vielfältigsten Bildern, dass wir so oder so
sind, und glauben dann noch, dass diese Bilder die Wirklichkeit selbst sind.
Wenn wir aber, wie Max Frisch bemerkt, keine Bilder von uns oder anderen
machen, bzw. sie immer wieder zurücknehmen, dann wächst der Respekt vor der
Einmaligkeit eines jeden Menschen. Es bleibt die Achtung vor dem Geheimnis,
das der andere dann immer bleibt, und das uns immer neu zum tiefen Staunen
vor einander führt.
Gott,
lass uns heute unsere Begegnungen auskosten
und jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit sehen.
Mehr noch, lass uns heute jeden Menschen mit deinen Augen sehen,
als Menschen, dem die Verheissung gilt, verwandelt zu werden
in das Geheimnis, das er immer schon ist.
Sei du uns heute nahe mit deiner verwandelnden Kraft. Amen.
Wir wünschen Ihnen einen guten und gesegneten Tag!
Die Seelsorgenden der Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
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