Weg-Wort vom 14. März 2006
Mit fernnahem Blick
Mit etwas Abstand sieht manches anders aus. Aus der Distanz betrachtet
erhält das Einerlei, das Grau des Alltags wieder etwas Farbe. Ferien oder
nur schon ein Tag ausgebrochen aus dem Alltag verändern die Perspektive.
Meine Sichtweise wird weiter. Ich vermag leichter zu erkennen, was
zusammengehört in meinem Leben, und was für mich wirklich von Bedeutung ist.
Ich erhalte einen schärferen, differenzierteren Blick für die Feinheiten und
für die Widersprüche in meinem Leben.
In der Ferne gewinne ich überraschend eine neue Nähe zu meinem Alltag, zu
meinen Menschen, zu mir selbst. Mein Blick verändert sich, wenn ich weg bin.
Er sieht vieles neu, mit deutlicheren Konturen und lebendigeren Farben und
manches liebevoller.
Mit der fernnahen Sichtweise stelle ich fest, dass ich mich dem Alltäglichen
nah und entfernt zugleich erlebe, dass mir das allzu gut Bekannte
erstaunlich ungewohnt ist. Was mir vertraut war, wirkt wie fremd und
entzieht sich mir zum Teil. Ich lasse es los und empfinde Lust, es ganz
neu zu entdecken.
Und da kann es geschehen, dass das Eigentliche aufleuchtet im
Gewöhnlichen. Ich erfahre, dass ich mich im jeweiligen Entfernen vom Alltag
nicht verliere, sondern vielmehr eine neue, verlässlichere Bodenhaftung
gewinne.
Um das Alltägliche loszulassen, muss ich mich nicht immer von ihm entfernen
und weggehen. Ich kann mich ihm auch mitten im Alltag entziehen für wenige
Minuten oder länger. In der Meditation, im Gebet gewinne ich Distanz und
Nähe zugleich zu den Dingen und zu den Fragen und Sorgen des Lebens, zu
meinen Nächsten und zu mir selbst.
Da kann es geschehen, dass ich mich für Augenblicke ganz im Hier und Jetzt,
im Eigentlichen des gewöhnlich Alltäglichen wiederfinde.
Da kann es geschehen, dass ich dem Fernnahen wie die Mystiker des
Mittelalters Gott auch nannten nahe bin.
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Hauptbahnhof Zürich
Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Hans-Ruedi Rüfenacht
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