Wegwort vom 10. Januar 2011
In jeder Nacht leuchtet ein Licht
In meinem Bekanntenkreis gibt es einige Menschen, die an Depressionen leiden, auch nahe
Freunde und Freundinnen. Ihre immer wieder kehrende Traurigkeit beschreiben sie wie einen
Weg durch die Nacht. Wie das Fallen in ein dunkles Loch. Als würden sich schwarze Schatten
über das Leben legen und alle Farben verschlucken. Im Innern wird es ganz finster.
Es sind Bilder der Dunkelheit. Ein Freund von mir, der lange Zeit suizidgefährdet war, hat
mir einmal das Bild eines Sterns geschenkt. Er hatte ihn in einer der langen Nächte
gemalt, in denen er keinen Schlaf fand. In ihnen wurde ihm der Stern zu dem Stern, der zur
Krippe führt, zu einem Hoffnungssymbol, an dem er sich festhielt und festhält in mancher
Nacht.
Menschen, die einmal Ähnliches erlebt haben, werden verstehen, was ihm das bedeutet: wenn
inmitten der Dunkelheit doch ein Licht aufgeht, das am Leben hält. Vielleicht nicht viel
mehr. Aber doch wenigstens das.
Wir müssen nicht depressiv sein, um solche Nächte zu kennen. Dann ist es kein Trost zu
wissen, dass alle in Zeiten ihres Lebens durch Dunkelheit gehen. Aber es kann ein Trost
sein, dass Menschen die Erfahrung gemacht haben, dass selbst in ganz undurchdringlicher
Nacht noch ein Licht aufleuchten kann, das einen führt. Seit Weihnachten gibt es keine
Nacht mehr ohne Stern.
Und das Licht, das uns leuchtet, macht uns selber zu Lichtträgern. Ein alter Rabbi fragte
eines Tages seine Schüler, wie man die Stunde bestimmt, in der die Nacht endet und der Tag
beginnt. Ist es, wenn man von Weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?,
fragte einer der Schüler. Nein, sagte der Rabbi. Ist es, wenn man einen Dattelbaum von
einem Feigenbaum unterscheiden kann?, fragte ein Zweiter. Nein, sagte der Rabbi.
Aber wann ist es dann?, fragten die Schüler. Der Rabbi antwortete: Es wird Tag, wenn du in
das Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und in ihm deinen Bruder oder deine
Schwester erkennst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.
© Ökumenische Bahnhofkirche im Hauptbahnhof Zürich
info(a)bahnhofkirche.ch
www.bahnhofkirche.ch
www.offene-tuer.net
Blog:
http://blogs.ref.ch/bahnhofkirche.php