Weg-Wort vom 21. Juli 2011
Gelassenheit
Wie viel gäbe ich dafür, wenn ich die Gelassenheit meiner Jugend wieder
zurückbekäme? Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich bewundere
Menschen, die bei Ungerechtigkeiten anderen gegenüber gelassen sind und auch
dann noch gelassen bleiben, wenn sie selbst argen Angriffen auf die eigene
Person ausgesetzt sind. Ich kann es nicht mehr. Früher war ich gelassener.
Und heute? Heute weiss ich nicht mehr, ob meine Gelassenheit der Quelle
innerer Ruhe entsprang oder die Folge eines dicken Schutzschilds war, der
mich nicht nur schützte, sondern mich eingepackt hielt in ein "Geht mich das
überhaupt etwas an?" - Gefühl. Je älter ich werde, desto dünner wird meine
Haut und desto stärker wächst das Wissen: Ich kann nicht einfach daneben
stehen, wenn Ungerechtigkeiten vor meinen Augen passieren. Ebenso kann ich
auch die eigenen Ungerechtigkeiten nicht einfach ausblenden.
Das hat mich viel Gelassenheit gekostet und ich vermisse sie. Dass ich
dünnhäutiger geworden bin, dafür bin ich dankbar, auch wenn das heisst, dass
ich mehr Schmerzhaftes auszuhalten habe. Wofür ich aber ganz und gar nicht
dankbar bin ist, dass mit dem Wachsen der dünneren Haut auch die
Gelassenheit mehr und mehr abhanden gekommen ist.
Es wäre schön, sie käme wieder - nicht nur zu Besuch oder für Ferien,
sondern als lebenslange Begleiterin. Um das bete ich mit ganz bestimmten
Worten. Sie werden Reinhold Niebuhr zugeschrieben:
Gott schenke mir Gelassenheit,
das hinzunehmen, was ich nicht ändern kann,
Mut, das zu ändern, was ich ändern kann,
und Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
(c) Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
info(a)bahnhofkirche.ch
www.bahnhofkirche.ch
Weg-Wort vom 14. Juli 2011
Der Schlüssel zur Lebensweisheit
In keiner früheren Epoche konnten sich die Menschen so rasch, so direkt und
gründlich über die Tagesereignisse, das Weltgeschehen, über Wissenschaft und
Technik informieren, wie es uns heute über das Internet möglich ist. Wir
können aber das viele Einzelwissen nicht auf einen gemeinsamen Nenner
bringen, es kaum in den grösseren Zusammenhang unseres Weltbildes und
unseres Glaubens hineinstellen. Es fehlt uns die Fähigkeit, das viele Wissen
zu ordnen, die unzähligen Eindrücke zu bündeln und auf einen Brennpunkt zu
sammeln in eine Klarheit, die mehr ist als blosses Wissen und Vielwissen -
eben Weisheit.
Weisheit ist nicht dasselbe wie Intelligenz, Bildung und Sachwissen. Oft
sind es gerade Menschen, die keine besondere Schulbildung haben, bei denen
man spürt: Sie sind reif und weise geworden. Sie haben in ihrem Leben eine
innere Ruhe und Ordnung gefunden, die durch äussere Ereignisse nicht so
leicht erschüttert wird. Sie wissen, worauf es im Leben und Sterben ankommt.
Als 1940 der deutsche Philosoph Peter Wust, einer der schärfsten Gegner des
Nazismus, im Sterben lag, konnten es seine Studenten nur schwer fassen, dass
sie ihren geliebten Professor im Alter von erst 56 Jahren verlieren sollten.
Weil sie wussten und weil er wusste, wie es um ihn stand, schickten sie an
sein Krankenbett eine Botschaft mit der Bitte, ihnen zum Abschied noch ein
Wort zu schreiben, mit dem sie leben könnten.
Und er schrieb ihnen: Wenn Sie mich nun fragen, bevor ich gehe, und
endgültig gehe, ob ich nicht einen Schlüssel kenne, der einem das letzte Tor
zur Weisheit des Lebens erschliessen kann, dann würde ich Ihnen antworten:
Jawohl! Und zwar ist dieser Zauberschlüssel nicht die Reflexion, wie Sie es
von einem Philosophen erwarten möchten, sondern das Gebet. Das Gebet, als
letzte Hingabe gefasst, macht still, macht wahr, macht kindlich. Ein Mensch
wächst für mich in dem Masse tiefer hinein in den Raum der Humanität, als er
zu beten imstande ist."
Das schreibt ein Philosoph, also ein Mann, der ein Leben lang nach Antworten
suchte auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, der Ausschau hielt nach
Hilfen für ein erfülltes Leben.
Gilt das nicht auch für unser eigenes geschäftiges Leben: Weisheit wächst in
der Stille.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
(c) Bahnhofkirche
Roman Angst, Rita Inderbitzin
Rolf Diezi, Beat Schlauri
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