Nähe und Distanz
Sie kennen die Situation in einem überfüllten Bus oder im Lift: Die Menschen
stehen dicht neben einander und vermeiden jeden Körperkontakt, oft sogar den
Blickkontakt. Warum? Weil ihnen das zu nahe ist. Wir haben ein eigenes
Gefühl dafür, wie viel Raum wir brauchen und welcher Abstand für uns gut
ist.
Von Schopenhauer stammt die Parabel von den Stachelschweinen:
Es ist kalt. Einige Stachelschweine kommen zusammen, um sich gegenseitig zu
wärmen. Dabei geraten sie mit ihren Stacheln aneinander. Das tut weh, und
sie entfernen sich wieder voneinander. Weil ihnen aber bald wieder zu kalt
wird, rücken sie wieder näher zueinander. Das wiederholt sich mehrmals, bis
die Stachelschweine schliesslich die Entfernung herausgefunden haben, in der
sie sich gegenseitig wärmen können, ohne sich zu verletzen.
Manchmal möchten wir nicht mehr in der Nähe von anderen Menschen sein. Doch
kaum sind sie weg, merken wir, dass der andere uns fehlt. In jeder Familie
und Beziehung braucht es Zeiten der Nähe und Zeiten des Abstandes.
In einem Seminar habe ich einmal diese Übung gemacht: Zwei Personen stellen
sich in grossem Abstand zueinander auf. Dann geht eine Person auf die andere
zu bis diese "Stopp" sagt. Darauf werden die Rollen getauscht. Mit dieser
Übung wird erlebbar, wie das persönliche Bedürfnis nach Nähe und Distanz
sehr unterschiedlich ist. Die Nähe, in der es unangenehm wird, ist bei jedem
anders. Es gibt Unterschiede zwischen den Menschen, wie viel körperliche und
emotionale Nähe und Distanz sie brauchen, das gilt am Arbeitsplatz ebenso
wie in einer Partnerschaft.
Die Übung macht ebenfalls deutlich, dass auch in Alltagssituationen jedes
für seine eigene Grenze verantwortlich ist und dass wir dies auch unserem
Gegenüber klar sagen müssen.
Weg-Wort vom 21. Juli 2011
Gelassenheit
Wie viel gäbe ich dafür, wenn ich die Gelassenheit meiner Jugend wieder
zurückbekäme? Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich bewundere
Menschen, die bei Ungerechtigkeiten anderen gegenüber gelassen sind und auch
dann noch gelassen bleiben, wenn sie selbst argen Angriffen auf die eigene
Person ausgesetzt sind. Ich kann es nicht mehr. Früher war ich gelassener.
Und heute? Heute weiss ich nicht mehr, ob meine Gelassenheit der Quelle
innerer Ruhe entsprang oder die Folge eines dicken Schutzschilds war, der
mich nicht nur schützte, sondern mich eingepackt hielt in ein "Geht mich das
überhaupt etwas an?" - Gefühl. Je älter ich werde, desto dünner wird meine
Haut und desto stärker wächst das Wissen: Ich kann nicht einfach daneben
stehen, wenn Ungerechtigkeiten vor meinen Augen passieren. Ebenso kann ich
auch die eigenen Ungerechtigkeiten nicht einfach ausblenden.
Das hat mich viel Gelassenheit gekostet und ich vermisse sie. Dass ich
dünnhäutiger geworden bin, dafür bin ich dankbar, auch wenn das heisst, dass
ich mehr Schmerzhaftes auszuhalten habe. Wofür ich aber ganz und gar nicht
dankbar bin ist, dass mit dem Wachsen der dünneren Haut auch die
Gelassenheit mehr und mehr abhanden gekommen ist.
Es wäre schön, sie käme wieder - nicht nur zu Besuch oder für Ferien,
sondern als lebenslange Begleiterin. Um das bete ich mit ganz bestimmten
Worten. Sie werden Reinhold Niebuhr zugeschrieben:
Gott schenke mir Gelassenheit,
das hinzunehmen, was ich nicht ändern kann,
Mut, das zu ändern, was ich ändern kann,
und Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
(c) Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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